Rada Adzhubey: Ein bemerkenswert kluger Mensch
Die Familie Gilels lernten wir (mein Mann Aleksej Iwanowitsch Adshubej und ich, Rada Nikititschna Adshubej) anfang Frühjahr 1963 kennen. Wir wollten auf Einladung der italienisch-sowjetischen Gesellschaft nach Italien fahren. Auf dem Bahnhof war das übliche Durcheinander, und da – wir waren schon im Waggon, die Passagiere drängten sich am Fenster in dem engen Durchgang, der Zug setzte sich langsam in Bewegung – sehe ich, dass neben mir die schöne Frau steht, die mir schon auf dem Bahnsteig aufgefallen war. Man musste sie einfach bemerken: die stolze Kopfhaltung, dunkle glänzende Augen, kurz geschnittene schwarze lockige, teilweise ergraute Haare… Das war Ljalja Gilels. Ich gestehe, Emil Grigorjewitsch kam in diesem Augenblick erst an zweiter Stelle in mein Gesichtsfeld. Aber sehr schnell begriff ich, dass er eine Führernatur war, und sich seinem Bann zu entziehen war unmöglich.
Natürlich kannten wir Gilels, wir gingen in seine Konzerte, waren entzückt von seinem Talent – er befand sich im Zenit seines Ruhmes. Aber ein Künstler auf der Bühne ist eine Sache – dagegen eine ganz andere: ein lebendiger Gesprächspartner, der im engen Wagenabteil sitzt. Weder bei dieser ersten Begegnung, noch in allen folgenden Jahren unserer Bekanntschaft hat mich Emil Grigorjewitsch in irgendetwas enttäuscht. Er war ein bemerkenswert kluger Mensch aus einem Guss. Und zu ihm passte Ljalja vollkommen – so nannte sie sich immer selbst, ich kannte ihren entzückenden Namen Fariset gar nicht.
Gilels als Musiker bewerten – werde ich nicht, das ist Sache der Kollegen seiner Zunft. Aber ich sage, dass es immer eine Freude und ein Vergnügen für mich war, ihm zuzuhören. Meiner Auffassung nach befand sich Gilels als Musiker und Mensch – in absoluter Harmonie.
Unsere zufällige Bekanntschaft wurde in Moskau fortgesetzt und ging in gegenseitige Sympathie und Freundschaft über. Die Gilels’ besuchten uns zu Hause und wir sie. Nicht oft, denn wir alle waren doch sehr beschäftigt. Emil Grigorjewitsch gab Konzerte, hatte Proben, machte Gastspielreisen und Ljalja begleitete ihn immer, in einer Person Ehefrau, Gehilfin, Bankier, Vertrauensperson. Und wir hatten unsere Arbeit: mein Mann war in jener Zeit Chefredakteur der Regierungszeitung „Iswestija“ und hatte in der sowjetischen Parteihierarchie seinen Platz; ich arbeitete in einem popularwissenschaftlichen Journal. Wie Sie sehen, die Streuung war breit. Aber wenn wir zusammen waren, war es interessant für uns. Ich wage zu sagen, dass wir uns im Geiste nahe waren. Sehr vieles in unserer nicht einfachen Realität sahen wir mit den gleichen Augen, und die Gespräche, die wir führten, waren überaus offen.
Ein tiefsinniger, ernsthafter kluger Mensch der Pflicht und Ehre – als solch einer erschien er mir damals, und so erinnere ich mich auch heute an ihn. Das ist eine Seite. Aber die zweite Seite, die mich faszinierte, das war ein sprühender Funke Fröhlichkeit, ein bemerkenswert feines Gefühl für Humor, das ihn nie verließ. Öfter machten Milja und Aljoscha in Späßen, Witzen, Anekdoten ihrem Herzen Luft. Emil Grigorjewitsch hatte eine einzigartige Sammlung: Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften, die dadurch bemerkenswert waren, dass das vom Autor ernst Ge-meinte und sogar mit Pathos Geschriebene, sich dem Leser als Farce, Karikatur oder einfach als Dummheit darstellte.
Nehmen wir die Fotografie eines ehrwürdigen Herrn auf den Knien(!), der den Rand einer Fahne küsste. „Aber warum“, brauste Emil Grigorjewitsch auf, „muss der Apotheker Feigenson aus Saratow auf diese Weise seine Treue zur Gewerkschaftsfahne demonstrieren?!“ Das war natürlich absurd, eine Anekdote – und wir bogen uns vor Lachen. Manchmal hatte das Lachen einen bitteren Nachgeschmack.
Das Gefühl für Humor und eine ungewöhnliche Willenskraft halfen, so schien es, mit aussichtslosen Situationen fertig zu werden. Und Ljalja war immer dabei.
Einer der tragischsten Momente in unserer jetzt schon so lange vergangenen Geschichte war der August 1968. Sowjetische Panzer fuhren in Prag ein und Europa explodierte vor Hass gegenüber allem, was aus Moskau kam. Und Emil Gilels musste noch das Abschlusskonzert einer großen Europatournee geben – in Stockholm, in Schweden! Wir waren buchstäblich ein, zwei Tage, nachdem die Gilels’ nach Moskau zurückgekehrt, waren bei ihnen.
Die Veranstalter des Konzertes wollten Gilels überreden, seinen Auftritt abzusagen. Aber er blieb unbeugsam. Am Abend erschien er, wie es sich gehörte, im Frack auf der Bühne. Pfeifen und Geschrei im Saal. Eine Sekunde stand er da und dann ent-fernte er sich würdevoll. Man kann sich vorstellen, was in seiner Seele vorging!
Das Schlüsselwort dieses tragikomischen Bildes ist FRACK. „Nicht auftreten – das konnte ich nicht“, erzählte uns Emil Grigorjewitsch. „Es drohte eine hohe Konventionalstrafe. Was sage ich dem Buchhalter der Philharmonie bei der Rückkehr in Moskau? Dieser Gedanke trieb mich an, während ich den Frack anzog, die Fliege zurechtrückte. Wie ein Kopfsprung ins kalte Wasser – ein Ruck und auf die Bühne. Bis zum Flügel gelangte ich nicht – mich riss buchstäblich eine Welle entrüsteter Schreie, Beschimpfungen, Beleidigungen fort. Aber mein Ziel hatte ich erreicht: wenn ich den Frack trug und auf die Bühne ging, galt das Konzert entsprechend den Vereinbarungen meines Vertrages als gegeben, und ich würde das Geld in vollem Umfang erhalten. Ich atmete auf. Der drohende Schatten des Philharmonie-Buchhalters trat in den Hintergrund. Aber die Schweden, die mit den Feinheiten unseres sowjetischen Lebens nicht vertraut waren, mochten annehmen, dass das alles meiner maßlosen Habsucht zuzuschreiben war.“
Das ist nur ein blasser Schatten, die Skizze einer glänzenden Miniatur, die Emil Grigorjewitsch uns vorspielte. Allen kamen buchstäblich vor Lachen die Tränen, obwohl man über das, worüber wir lachten – eher vor Bitterkeit, Erniedrigung und Ohmacht schluchzen konnte. Und Milja schloss: „Gestern erschienen Ljalja und ich in der Philharmonie vor den scharfen Augen des Buchhalters und mein Hausbankier zahlte ihm die Summe vollständig aus“.
Diese ganze Geschichte ist den Russen von heute möglicherweise vollkommen unverständlich – und Gott sei Dank! In jener Zeit war es die Realität des Alltags im Leben eines Künstlers, auch die eines glänzenden Musikers mit Weltgeltung, wie es Gilels war. Das lag daran, dass jeder beliebige Sowjetbürger, der ein Honorar im Ausland erhielt, verpflichtet war, einen bestimmten Prozentsatz an die Staatskasse abzuführen. Wie hoch dieser bei Gilels war, daran erinnere ich mich nicht. Vielleicht 80 Prozent, vielleicht auch mehr… Übrig blieben nur Krümel. Und der Vertreter des Staates war in diesem Fall der bescheidene, jedoch unerbittliche Buchhalter der Moskauer Philharmonie. Und keinerlei Kontoauszüge, Kreditkarten, Überweisungen – die ganzen Auszahlungen befanden sich in Ljaljas Händen, in ihrer Handtasche.
In unserem Leben, Aljoschas und meinem, brachen Tage an, in denen die Bekanntschaft mit uns aus Prestigegründen (um es modern auszudrücken) gefährlich wurde. Meinen Vater, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, der an der Spitze der Sowjetunion stand, schickte man infolge einer Verschwörung in den höchsten Kreisen in Pension. Er war eine Persona non grata geworden. Mein Ehemann wurde ebenfalls von allen Verpflichtungen entbunden. Und es kam vor, dass frühere „Freunde“, die mich beneidet hatten, eiligst auf die andere Straßenseite wechselten, damit sie mir nicht begegneten. Es entstand eine natürliche Auslese – eine Auslese nach Anständigkeit und Mut. Jene, die nicht zurückschreckten, konnte man an den Fingern einer Hand abzählen. Und unter ihnen waren die Gilels’.
Mehr noch, sie besuchten den in Ungnade gefallenen Pensionär Chruschtschow in der Datschensiedlung Petrowo-Dalneje bei Moskau. Das war ein mutiger Schritt. Solche gab es nur wenige; alle verstanden, dass jeder Besucher von der Wache registriert wurde und sein Name in eine bestimmte Liste des KGB eingetragen wurde.
Was riskierten die Gilels’? Schwer zu sagen, es konnte alles Mögliche sein. Man konnte ihnen Auslandstourneen verbieten, Konzerte im Land beschränken… Zum Glück geschah nichts dergleichen, und unsere Besuche in dem gastfreundlichen Haus der Gilels’ fanden weiterhin in schöner Regelmäßigkeit statt – sie waren nicht sehr häufig, aber herzlich und freundschaftlich.
Zum letzten Mal sahen wir Emil Grigorjewitsch auf unserer Datscha in der Nähe von Moskau. Er kam allein, ohne Ljalja. Sein Aussehen bekümmerte mich. Sich selbst gar nicht ähnlich: weder ein Gefühl innerer Energie, noch Glanz in den Augen, keine komischen Geschichten – er war müde, bleich, traurig, wortkarg. Sehr nervös, sogar irgendwie erschreckt. Fragen stellte ich nicht. Er hielt sich nicht lange auf, trank mit uns Tee und fuhr fort.
Emil ist nicht mehr. Aljoscha ist aus dem Leben gegangen. Ljalja treffe ich selten. Sie war immer tief religiös, jetzt ist diese Seite die Wichtigste in ihrem Leben geworden. Sie half ihr, das Unglück zu ertragen, so scheint es mir.
Dann begann Lena Gilels, die ich schon als Kind kannte, mich in ihre Konzerte einzuladen. Mir war das teuer und berührte mich sehr. Der Faden riss nicht ab. Jetzt ist es ihr Sohn – Kirill Petrowitsch Gilels, der Enkel Emil Grigorjewitschs. Ihm fiel das Erbe zu, den Namen Gilels in Ehren zu tragen.
Aber meine Begegnungen mit dem glänzenden Musiker Emil Grigorjewitsch Gilels dauern an – es gibt Aufzeichnungen seiner Konzerte, die Musik ist unvergänglich. Um Turgenjew mit anderen Worten wiederzugeben: In den Tagen des Zweifels, in Tagen bedrückender Gedanken bist du meine Hoffnung und Stütze – große Musik.
Moskau, Februar 2007