
Grigory Gordon: Es vergeht und bleibt
(in German)
Eine Erzählung Kuprins – sie kam mir unter die Augen, als ich als   Neunjähriger gerade anfing mich mit Musik zu beschäftigen, – fesselte   lange meine Phantasie: Ein Junge der Klavier spielte, wurde gebeten an   Weihnachten zur Unterhaltung der versammelten Gäste zu spielen; zufällig   kommt Anton Rubinstein zum Hausherrn, er hört dem Spiel des Jungen zu –   und entführt ihn in seinem Schlitten und erklärt ihm unterwegs sehr   wichtige Dinge…
Mit Vergnügen habe ich mich selbst an der Stelle des Jungen gesehen,   aber mich holte nicht Anton Rubinstein (zumal er ja schon „beschäftigt“   war), sondern… Emil Gilels! Ich hatte nie daran gezweifelt, dass er  zu  Anton Rubinsteins Zeit lebte, – so hallte sein Ruhm, – denn nur in   jenen Zeiten gab es solche Riesen! Andere Pianisten gab es wirklich,   aber er blieb für mich irgendwie ein Märchenheld, obwohl es sich   allmählich herausstellte, dass Gilels unter uns lebte… Einmal, als ich   allein zu Hause war und etwas auf dem Klavier spielte, öffnete sich   weit die Tür und ich sah auf der Schwelle einen Bettler stehen (der   Krieg war erst vor kurzem zu Ende gegangen und Bettler kamen oft ins   Haus); es war ein Alter in schmutzigen Lumpen, zerzaust, ein ziemlich   furchterregender Anblick. Nach allem zu urteilen, hatten ihn die Klänge   hergeführt, die vom äußersten Ende der großen Gemeinschaftswohnung her   drangen. Die Hand hoch erhoben und den Zeigefinger zur Decke gestreckt,   sagte er feierlich: „Junger Mann! Ich wünsche ihnen, dass Sie Emil   Gilels erreichen!“ Und dann schlug er die Tür zu und verschwand auf der   Stelle. Ich war verblüfft, aber auch geschmeichelt, dass Worte, die  sich  auf Emil Gilels bezogen, an mich gerichtet waren. Leider war nicht   klar, in welchem Sinne ich ihn „erreichen“ sollte – ob ich irgendwann   sein Schüler oder ob ich irgendwann einmal eben so ein berühmter  Pianist  werden sollte, wie er (ein Variante, die mir mehr gefiel). Noch  lange  Zeit bemühte ich mich, dieses Rätsel zu lösen.
Gilels wurde oft im Radio übertragen, man konnte seinem Namen auf   Plakaten begegnen – und das bedeutet, man konnte sogar in seine Konzerte   gehen! …und ich begann mir meinen Weg zu bahnen, – um jeden Preis! –   indem ich mich bemühte kein einziges Konzert zu versäumen. Muss ich   sagen, dass ich vollkommen hingerissen war – Gilels war mein Idol   geworden. Ein für allemal!
An den Tagen seiner Konzerte war ich irgendwie so aufgeregt, als müsste   ich – selbst spielen. Die zwei „Amphitheater“ des Großen Saales des   Konservatoriums trennten ihn immer von mir – niemals kam ich ihm auf   einer kürzeren Entfernung nahe.
Aber da erblickte ich ihn einmal von ganz nah – jemand hatte mich in   eine Loge direkt am Zugang zur Bühne geführt. Links war der überfüllte,   erregte und dröhnende Saal, unerwartet aufgesprungen, als wäre er   explodiert von den Applaudierenden; rechts – er, gelassen, ruhig, als   hätte all das was hier geschah, nichts mit ihm zu tun. Gemessen und   ruhig ging er zum Klavier. Als er sich an den Flügel setzte, sah ich   sein Gesicht –  merkwürdig, anderen Gesichtern nicht ähnlich und schön   in seiner Ungewöhnlichkeit: Es war konzentriert – undurchdringlich und   gleichzeitig erstaunlich vergeistigt – man konnte den Blick nicht von   ihm wenden. Im Deckel des Flügels spiegelten sich seine Hände – in ihrer   „Art sich zu bewegen“ war etwas Verzauberndes.
Gilels’ Spiel zu beschreiben – wäre sinnloses Bemühen: Um es zu   beschreiben, muss man sich wenigstens auf der Höhe bewegen, auf der er   spielte, und das ist kaum möglich.
Ich folgte ihm – man kann sagen, jagte ihm nach – so gut ich konnte.   Einmal erblickte ich sein Porträt im Schaufenster eines kleinen   Fotogeschäfts in der Gorkij-Straße (gegenüber dem Tschaikowskij-Saal) –   und meine Spaziergänge bekamen eine neue Richtung; Sergej Obraszows  Film  „Das Wunderbare ist unter uns“ sah ich mehrmals: Dort spielt  Gilels –  sicherlich nicht länger als eine Minute – „Jardins sous la  pluie“ von  Debussy!
Kurz gesagt: Gilels verschwand nicht aus meinem Gesichtskreis – weder in   den Schuljahren noch später, während meines Studiums bei G. Neuhaus im   Gnessin-Institut. Als ich dieses beendet hatte, ging ich nach Brjansk,   um zu arbeiten; als ich aus Moskau wegfuhr, dachte ich mit Bedauern,   dass ich Gilels jetzt wohl einige Jahre nicht mehr hören würde…
(Freilich war die Verbindung mit Moskau nicht abgebrochen, weil ich bei Neuhaus ein Fernstudium belegt hatte).
In Brjansk hatte man eine Musikschule eröffnet und in der ersten Zeit war ich an ihr der einzige Pianist.
Es war im Dezember 1960. Und an einem wunderschönen Tag, wie es in alten   Büchern heißt, kam die Direktorin der Brjansker Philharmonie Galina   Iwanowna Sofronowa zu mir und teilte mir im Vertrauen mit:
„Wissen Sie, dass Gilels zu uns kommt?“
Was für eine Nachricht!
Die Stadt kam in Bewegung – die Karten waren im Nu ausverkauft. Gilels   war niemals in Brjansk gewesen, aber wer kannte diesen Namen nicht! Im   Triumph war er durch alle Länder und Kontinente spaziert, sogar in   seinem Klang – als hätte sich das Schicksal selbst darum gekümmert –   hört man gleichsam leichte, helle, jubilierende Glocken! Hört zu: Emil   Gilels!
Er kam für einen Tag nach Brjansk.
Galina Iwanowna ordnete an:
„Am Morgen fahre ich zum Bahnhof, um Gilels abzuholen, und Sie warten hier – ich werde ihn in die Schule bringen.“
Die Schule befand sich direkt im Zentrum der Stadt – ein gemütliches   zweistöckiges Gebäude, in dem sich meine Klasse befand – die erste im   Gang nach dem Treppenabsatz des ersten Stocks. Unter ihr, im Erdgeschoß   war die Eingangstür. Ich wartete, über das Geländer gebeugt, schaute  ich  hinab. In der Schule war kein Mensch; ich erinnere mich jetzt nicht   mehr warum – entweder war es Sonntag, oder man hatte den Unterricht  aus  diesem Grund verlegt.
Schließlich schlug die Eingangstür und Galina Iwanowna beendet den Satz:
„… in der Ausbildung bei Neuhaus…“
„Nein“, hörte ich seine Stimme …
Ich stürzte in die Klasse und den Atem anhaltend hörte ich, wie sich   Schritte näherten. Als Erste trat die strahlende Galina Iwanowna ein,   hinter ihr – er.
„Guten Tag, Emil Grigorjewitsch!“
Er blieb nicht stehen, machte einige Schritte auf mich zu, sah mir   schweigend in die Augen und streckte mir die Hand entgegen; sie war   gleichzeitig stark und weich, wie ein Kissen. ‚Klein ist sie!’ – schoss   es mir durch den Kopf.
Sich die Hände warmreibend (vom Weg!), fragte er:
„Wo kann man sich hier vorbereiten?“
Ich führte ihn in den Saal (Galina Iwanowna ging, nachdem sie ihre   Aufgabe erfüllt hatte), der speziell für ihn vorbereitet worden war.   Hier stand ein neuer, sehr guter „Blüthner“.
Ich wollte schon fortgehen um ihn nicht zu stören, aber da geschah etwas Unvorhergesehenes.
„Haben Sie jetzt Zeit?“, fragte er.
„Ja natürlich, Emil Grigorjewitsch.“
„Ich würde Ihnen gern das Programm vorspielen; ich habe es noch vor keinem Musiker gespielt.“
Das war umwerfend. Ich verstand sehr wohl: Jeder Beliebige hätte an   meiner Stelle sein können – Gilels musste sich für das Konzert sozusagen   einspielen, – unwichtig vor wem – er musste sich selbst überprüfen.  Wer  war ich für ihn? – der Erstbeste, der einen Bezug zur Musik hatte,  der  irgendwo in den Brjansker Wäldern verloren gegangen war. Was für  ein  Glück hatte ich doch!
Er war ruhig und bedächtig; man hatte nicht den Eindruck, dass abends   ein Konzert bevorstand. Nachdem ich mich in einer der ersten Reihen des   Saals niedergelassen hatte, interessierte er sich dafür, wo ich   studiere, bei wem, was ich spiele. Ich musste in nächster Zeit mit   Orchester spielen.
„Und wer ist der Dirigent?“
Er hörte ganz aufmerksam zu. Allmählich kam das Gespräch auf das heute   stattfindende Konzert. Er fragte, wie das Publikum in der Stadt sei, ob   noch jemand anderer hier gastiere. Ich antwortete, dass es noch nicht   lang her war, dass Jakow Sak hier war.
„Was hat er gespielt?“
„Die ‚Rhapsodie über ein Thema von Paganini’.“
„Mit wem?“
„Mit der Philharmonie von Nord-Ossetien, die Pawel Jadych dirigierte.“
Gilels winkte mit der Hand ab:
„Nun, das spielt er auch mit Galina Iwanowna.“
Das Programm des heutigen Konzertes war auf den Plakaten nicht aufgeführt und ich wartete ungeduldig, was er denn spielen würde.
„Ich werde“, sagte er schließlich, „Sonaten von Scarlatti, C. Ph. E. Bach, Haydn und Clementi spielen.“
Und da er offensichtlich fürchtete, dass dieses Programm „unvorteilhaft“ sein könnte, fragte er:
„Was denken Sie, kann man das spielen oder sollte man es lieber ändern?“
Ich begann ihn zu überzeugen (im Übrigen in voller Überzeugung), dass   man nichts ändern müsse, dass man zuhören würde und dass man hier jede   Musik spielen könne.
„Wie hat sich alles verändert“, sagte er. „Früher hätte man ein solches Programm nur in Moskau spielen können.“
Er stand auf und ging auf die Bühne.
“Und wie soll man es am besten ansagen? Nun: ‚Wir beginnen das Konzert   so und so’. Und weiter? Vielleicht: ‚Auf dem Programm steht eine   Klassische Sonate?’“
Gleichsam als wollte er den Zuhörer warnen: Erwarten sie nicht die „Apassionata“ oder eine Rhapsodie von Liszt.
„Oder vielleicht“, fragte ich, „eine ‚Sonate alter Musik’ – zum besseren Verständnis?“
Dem gegenüber schien er irgendwie skeptisch zu sein und sagte unbestimmt:
„Vielleicht …“
Und dann spielte er das ganze Programm, vom Anfang bis zum Ende. Ich saß   einige Meter von ihm entfernt – ich hörte alles und sah alles. Es ist   wohl überflüssig, denke ich, von dem Eindruck zu erzählen. Bei den   letzten Akkorden der Sonate von Clementi konnte ich einfach nicht mehr   sitzen bleiben und als er, nachdem er sie beendet hatte, in den Saal   schaute – stand ich schon, als ob es mich vom Stuhl gerissen hätte.
„Emil Grigorjewitsch, ich werde das niemals vergessen!“
Er machte nur eine Geste mit der Hand, während er ungefähr sagte: „Ach was, es lohnt sich nicht, darüber zu sprechen…“
Wir verließen die Schule und kamen zum Gasthaus, das ganz in der Nähe war.
„Ich muss unbedingt tagsüber etwas schlafen“, sagte er.
Vor dem Gasthaus, auf dem Vorplatz stolzierten Tauben wichtig umher. Er blieb stehen. Schaute ihnen nach. Schwieg eine zeitlang.
„Was für ein Schöner ist der dort!“ Und er zeigte mit dem Finger darauf. An der Tür fragte er vorsichtig:
„Könnten Sie nicht um sechs kommen und mich abholen? Wir könnten zusammen fahren.“
Natürlich einigten wir uns über alles.
Das Konzert fand im Kulturpalast von Beshitzkij statt. Früher einmal war   Beschiza eine selbständige Stadt gewesen, aber mit der Zeit war sie  von  Brjansk „geschluckt“ worden, und es wurde zum Beshitzkij-Gebiet von   Brjansk – mit dem Auto war es eine Fahrt von ungefähr fünfzehn  Minuten.
Gegenüber der Philharmonie standen zwei Autos bereit; in einem von ihnen   nahmen Galina Iwanowna und er Platz, nachdem er mich hartnäckig   eingeladen hatte, mit ihnen zu fahren (er hatte lange die Tür   aufgehalten). Aber ich hatte mich geniert und setzte mich in das andere   Auto – ich erinnere mich wirklich nicht mehr mit wem. Als wir beim   Kulturpalast ankamen, war das Auto mit Gilels aus irgendeinem Grund   nicht da, obwohl es vor uns abgefahren war. Wir warteten einige Zeit;   schließlich erschien es. Da stellte sich heraus, dass sich der Chauffeur   geirrt und Gilels zu einem anderen Ort gefahren hatte. Aber Ende gut,   alles gut.
Der riesige Saal des Kulturpalastes war schon brechend voll. Wir gingen   alle hinter die Kulissen und Gilels führte man ins Künstlerzimmer.  Durch  den geschlossenen Vorhang lärmte und applaudierte der ungeduldige  Saal;  die Bühne war jedoch leer – der Flügel stand an der Seite, in  der  „Tasche“, und unter ihm lag, wie ein Chauffeur unter dem Auto, der   Klavierstimmer G. K. Bogino, der, wie sich herausstellte, zusammen mit   Gilels gekommen war und sich am gleichen Morgen in den Palast begeben   hatte. Den ganzen Tag, ohne Pause zu machen, versuchte er den Flügel in   Ordnung zu bringen, natürlich sehr wohl wissend wie ihn Gilels haben   wollte.
Das Konzert sollte beginnen und Bogino beeilte sich und war nervös.   Unbemerkt war Gilels, schon im Frack, herangekommen und fragte leise:
„Wie sieht es aus?“
Er schien mir müde, hohlwangig, irgendwie zerknittert; ich bin sogar richtig erschrocken.
„Fertig“, sagte schließlich Bogino erleichtert und einige Männer schoben   den Flügel auf die Bühne. Es war Zeit in den Saal zu gehen; als ich   wegging, schaute ich mich um – Gilels winkte mir mit der Hand. Und ich   traute meinen Augen nicht: Vor mir stand ein völlig anderer Mensch, er   hatte sich im Augenblick verwandelt – er war schneidig, munter, elegant.   Auf die Bühne hinaus trat ein junger Gilels, ganz als ob er über die   Begegnung mit dem Publikum, das ihn begeistert begrüßte, vor Freude   strahlen würde. Mit angehaltenem Atem hörte der Saal dem „schwierigen“   Programm zu – kaum jemand verstand es die Zuhörer so zu fesseln, wie er.   Der Erfolg war unvorstellbar.
Einige Zeit später fuhr ich wegen meiner Doktorarbeit nach Moskau. Als   ich zu Neuhaus kam, traf ich ihn in aufgeregtem Zustand an, – sofort   sagte er:
„Wie spielte Gilels die Sonaten! Wie klingt der Flügel! Ich konnte nicht   kommen, ich habe mich scheußlich gefühlt und habe ihn am Radio gehört,  –  sogar ein Telegramm habe ich ihm geschickt!“
Er konnte sich einfach nicht beruhigen und wiederholte:
„Wie klingt der Flügel!“
Im folgenden Jahr kam Gilels wieder nach Brjansk. Mit dem Recht alter   Bekannter fuhren wir ihn abzuholen – Galina Iwanowna, ich und einige   meiner Schüler.
Aus dem Waggon, in dem er ankommen sollte, stiegen alle bis auf den   letzten Passagier aus, aber er war nicht dabei. Galina Iwanowna wurde   blass:
„Er ist nicht gekommen! Und dabei ist alles ausverkauft!“
Die Menge auf dem Bahnsteig begann sich schon zu lichten, als sich ganz   am Ende des Zuges, fern von uns, zwei Figuren abzeichneten – Gilels und   der Manager, der ihn begleitete. Es stellte sich heraus, dass Gilels  zu  ihm in den Waggon gewechselt hatte (anscheinend einem Waggon mit   Platzkarten) und die ganze Nacht bei ihm geblieben war, weil er nicht   allein in der besseren Klasse fahren wollte. Das war er – der   „unzugängliche“ Gilels!
„Sie hatten dazu Lust – so in der Frühe!…“, sagte er zu mir, aber er   freute sich offensichtlich, dass ihn eine große Delegation empfing.
Dieses Mal fand das Konzert im Pionierpalast statt, im Zentrum von   Brjansk; die Plakate waren „blind“ – ohne Programmangabe. Gilels probte   im Gebäude der Philharmonie – er spielte einzelne Stellen aus einer   Sonate von Liszt und während des Tages ging er, um sich den Flügel   anzusehen. Wir gingen auf die Bühne und er spielte sofort ein Glissando   aus Ravels „Alborado“ – aber wie! Ich fragte ihn, ob er das heute   spielen würde.
„Nein, drei Sonaten – von Chopin die b-moll-Sonate, von Schumann fis-moll, und Liszt.“
Was das für ein Konzert war, kann man gar nicht versuchen zu erzählen!   Wir – eine ganze Schar Leute – begleiteten Gilels durch die dunkle und   stille Straße bis zum Hotel.
Plötzlich drangen aus den Fenstern eines Großen Hauses die Klänge des   Dritten Klavierkonzertes von Rachmaninow. Dort wohnte meine Schülerin,   die – rasch vom Konzert zurückgekehrt – den Augenblick abgepasst hatte,   als er unter ihren Fenstern vorüberging, und spielte laut, für die  ganze  Straße!
„Das ist Ihnen zu Ehren, Emil Grigorjewitsch!“ sagte ich zu ihm. Er dachte nach und bemerkte beiläufig:
„Aber ich spielte doch auch das Vierte Konzert.“
„Ich weiß.“
Dann kam die Rede auf Schumann im Zusammenhang mit der gerade gespielten Sonate.
„Ich spielte auch die Zweite Sonate“, sagte er unvermutet.
„Ich weiß, Emil Grigorjewitsch.“
„Und mit beiden Finale“, fügte er hinzu, in Hinblick auf das Presto passionato.
„Auch das weiß ich.“
Meiner Meinung nach war er über diese außerordentlichen Kenntnisse erstaunt.
Es vergingen ungefähr zwei Wochen. Ich war ein weiteres Mal nach Moskau   gekommen, und – welch ein Zusammentreffen! – im Großen Saal des   Konservatoriums spielt Gilels. Aber ich hatte für das Konzert keine   Karten mehr erhalten können, ungeachtet aller Schritte, die ich   unternommen hatte. Nachdem ich während des ganzen Konzertes in der   Garderobe herumgeschlendert war, ging ich direkt hinter die Kulissen;   ich befand mich am Ende einer sehr langen Schlange und drang schließlich   zu ihm vor.
„Sie sind in Moskau?“, wunderte er sich.
Ich streckte ihm das Buch über ihn von Chentowa entgegen, das ich   mitgebracht hatte – die erste, sehr eindrucksvoll aussehende Ausgabe. Er   öffnete es und schrieb rasch unter das Porträt:
„Zur Erinnerung an unsere Begegnungen dem lieben Grischa Gordon zur Erinnerung, mit den allerbesten Wünschen.
18.10.1961. Emil Gilels“.
Dann fragte er:
„Haben Sie meine Telefonnummer?“
Mir war es peinlich bei dieser Menge von Leuten mit dem Aufschreiben   einer Telefonnummer herumzuhantieren und ich sagte, dass ich sie leicht   erfahren könne.
„Rufen Sie mich an, wenn Sie spielen werden; ich möchte hören, wie Sie spielen.“
Das wurde in einem Ton gesagt, der keinen Widerspruch duldete, es war   fast ein Befehl. Ich geriet in Panik. Es blieb nur eine Hoffnung:   Vielleicht sagte er das nur sozusagen als Nettigkeit – und er wird es   vergessen… Aber er wiederholte es hartnäckig jedes Mal, wenn ich zu ihm   ins Künstlerzimmer kam.
Was war da zu tun? Ich konnte nicht kneifen, – und eines Tages, es war   einige Tage vor meinem Konzert, rief ich ihn an. Leicht gesagt – ich   rief ihn an! Vor allem musste ich die Telefonnummer auftreiben, was sich   unvorhergesehenerweise als fast hoffnungslos herausstellte. Meine   Erwartungen erfüllten sich nicht: Diejenigen, bei denen ich nachfragte,   wussten die Telefonnummer nicht. Da brachte mich jemand auf einen   Gedanken: Wenn man die Adresse hat – und die kannte ich – kann man von   der Auskunft die Telefonnummer erhalten, das heißt – eine Telefonnummer   zu der Adresse erfragen. Ich rufe bei der Auskunft an:
„Sagen Sie bitte, können Sie mir die Telefonnummer zu einer Adresse sagen?“
„Zu welcher Adresse?“, fragte wie gewohnt eine weibliche Stimme. Ich nannte sie.
„Einen Augenblick“, erklang es vielversprechend am anderen Ende der Leitung.
Nach einer gehörigen Pause sagte die Stimme:
„Telefonnummern dieser Art geben wir nicht heraus“, und der Hörer wurde aufgehängt.
Was tun?! Zum Glück kam mir ein unkonventioneller Weg in den Kopf, der funktionierte.
Aber meine Qualen endeten damit nicht – mir stand das Schwierigste noch   bevor: Einen halben Tag schlich ich um das Telefon herum – und   schließlich hatte ich mich entschieden…. Dennoch dachte ich tief in   meiner Seele nicht daran, dass er kommen würde und höchstwahrscheinlich   war er auch auf Tournee…
Er kam selbst ans Telefon. Ich stammelte etwas und hörte als Antwort:   Leider wird er nicht in Moskau sein, er fährt zu Konzerten nach Gorkij.   Und damit endete das Gespräch. Ich muss sagen, dass ich erleichtert war   wie nie zuvor.
Gilels kam noch einmal nach Brjansk, aber ich war schon nicht mehr dort.   Wenn ich jedoch in Moskau zu ihm ins Künstlerzimmer ging, fühlte ich   mich richtig glücklich, ihn aus der Nähe zu sehen… Er war sehr   unterschiedlicher Stimmung: aufmerksam und zerstreut, sanft und   irgendwie fremd. Das hing natürlich davon ab, ob er mit dem Konzert   zufrieden war, – die gerade erklungene Musik ließ ihn noch lange nicht   los…
Aber eines Tages verpasste ich ein Konzert: Die Schlange, die nach   übrigen Karten fragte zog sich fast bis zu den Nikitskij-Toren und all   meine Tricks führten zu nichts. Ich war verzweifelt und nachdem ich nach   Hause zurückgekehrt war, schrieb ich ihm einen Brief – wie man ihn  eben  nur in der Jugend schreiben kann… Ich schickte ihn ab.
Es vergingen ungefähr zwei Monate – da erhielt ich eine farbig glänzende   Postkarte mit der Innenansicht irgendeiner Kathedrale; auf dem   Poststempel stand „Paris“. Ich lese und traue meinen Augen nicht:
„21.4.1969
Lieber Grischa!
Danke für Ihre warmherzigen Worte. Ich grüße Sie herzlich und wünsche Ihnen Glück und Erfolg.
Ihr Emil Gilels“
Seit jener Zeit sandte er zu jedem Neujahr eine Glückwunschkarte und als ich heiratete – eine für uns beide.
Im Herbst des gleichen Jahres kam das Leipziger Gewandhausorchester nach   Moskau; der Dirigent war Kurt Masur. Am 20. September spielten sie im   Tschaikowskij-Saal neben Stücken eines zeitgenössischen deutschen   Komponisten die Erste Sinfonie von Brahms und das Fünfte Konzert von   Beethoven (Solist – Günther Kooz). Ich ging hin.
Plötzlich stand ich in der Pause Gilels gegenüber. Wir gingen zusammen aus dem Saal ins Foyer.
„Haben Sie einen Plattenspieler?“, fragte er vorsichtig.
„Ja, Emil Grigorjewitsch.“
Ich war stehen geblieben und wartete, wie es weiter ginge.
„Ich möchte Ihnen ein paar von meinen Platten geben.“
„Ich werde sehr gut auf sie aufpassen!“, versicherte ich ihm.
„Nein, ich möchte sie Ihnen schenken“, sagte er irgendwie vorwurfsvoll über meine Begriffsstutzigkeit.
Wir standen gerade unter seinem großen Porträt. Er sprach über die As-Dur-Sonate von Weber, darüber, wie er sie liebe.
„Sie spielte eine sehr große Rolle in der Musikgeschichte.“
Die Leute, die ihn erkannten, gingen in ehrfurchtsvollem Abstand um unsere „Gruppe“ herum.
Mit einer baldigen Übergabe der Schallplatten konnte man nicht rechnen –   er war zu sehr beschäftigt. Aber trotzdem, er hatte es jedenfalls   versprochen…
Unerwartet (es war immer unerwartet!) wurden im Winter zwei seiner   Konzerte angekündigt: Für den 3. Januar – das Erste Konzert von   Tschaikowskij mit Jewgenij F. Swetlanow und für den 5. Januar – ein   Soloabend: Mozart, Schumann, Prokofjew. Im letzten Augenblick – ein   äußerst seltener Fall! – änderte Gilels das Programm und auf den   Plakaten des Konservatoriums stand nur ein Name – Mozart. Die   Rätselhaftigkeit dieser Änderung heizte nur die auch ohnedies riesige   Aufregung über das Konzert an.
In das Sinfoniekonzert gelangte ich irgendwie; für das Solokonzert gab   es jedoch keine Hoffnung, – und hinter den Kulissen, nach dem   Tschaikowskij-Konzert, war ich gezwungen ihm zu sagen:
„Emil Grigorjewitsch, ich habe keine Karte für übermorgen.“ Es war   übervoll: Die Leute drängten sich um ihn, umarmten ihn, hingen an ihm,   er ging mit irgendjemanden zur Seite und achtete überhaupt nicht auf   meine Worte.
Am Tag des Mozart-Konzertes wartete ich seit dem Morgen auf irgendwelche   Nachrichten: Es kam ja manchmal vor, dass irgendjemand anrief und eine   zufällig „übrige“ Karte anbot, wer weiß…
Das Telefon läutete. Eine unbekannte Männerstimme:
„Kann ich Grigorij Borisowitsch sprechen?“
„Ja, ich bin am Apparat.“
„Guten Tag, Grischenka! Hier ist Emil Grigorjewitsch.“
!!!
Meine Verwirrung anscheinend erkennend, fuhr er fort:
„Ich habe Ihnen einen Passierschein für zwei Personen an der rechten   Eingangskontrolle hinterlegt – an der Treppe, in der rechten Ecke, auf   Ihren Namen. Also, kommen Sie.“
Außer „danke“ konnte ich nichts herausbringen, aber ich musste das   Gespräch schnell beenden – am Abend musste er doch spielen… Im letzten   Moment kam mir die Erleuchtung:
„Hals- und Beinbruch, Emil Grigorjewitsch!“
Er schien auch nichts anderes als das erwartet zu haben:
„Spuck drauf!“ antwortete er mit Vergnügen anstelle des traditionellen „Zum Teufel“.
Das Konzert war eines von denen, die man sein ganzes Leben nicht vergisst. Im Künstlerzimmer sagte er mir:
„Dieses Programm bereite(!) ich für Salzburg vor.“
Im folgenden Jahr, 1971, ging ich nach seinem Konzert wie immer zu ihm   ins Künstlerzimmer. In diesem Augenblick übergab ihm jemand einen ganzen   Stoß Fotografien, auf denen er während der Probe mit dem Orchester   aufgenommen worden war. Die Aufnahmen waren großartig, ich war geradezu   neidisch. Nachdem er sie flüchtig angesehen hatte, breitete er sie auf   dem Tisch aus:
„Suchen sie sich aus, welche Ihnen am besten gefällt …“
Ich zog eine heraus, auf der die Hände gut zu sehen waren, und Gilels versah sie schnell mit einer Widmung.
„Das ist in Hamburg“, sagte er. „Ich habe dort einen Zyklus gespielt“.   (Er meinte den Zyklus aller Beethovenkonzerte). Sich verabschiedend   sagte er:
„Wir sollten uns einmal treffen, uns unterhalten…“
Er begann öfter anzurufen. In der ersten Zeit erkannte ich seine Stimme   nicht – ich glaubte immer noch nicht, dass er mich anruft. Ich sagte  ihm  sogar, dass es mir immer schien, als würde mich jemand zum Narren   halten.
„Dieses Mal nicht“, antwortete er. Eines Tages rief er an:
„Was machen Sie heute Abend, Grischenjka? Wenn Sie können, kommen Sie   mit Innotschka zu mir, – ich werde allein zu Hause sein, – treffen wir   uns, setzen wir uns zusammen und unterhalten uns…“
Er fragte, wie ich meine Schallplatten „erfasse“ und, nachdem er   erfahren hatte, dass ich ein spezielles Album dafür habe, fragte er   mich, ob ich es mitbringen könne. Das war natürlich mehr als ein Wink   mit dem Zaunpfahl – na endlich! Die Volksweisheit sagt: „Auf das   Versprochene wartet man drei Jahre“. Und tatsächlich – es waren genau   drei Jahre vergangen!
Eilig brachen wir auf und fuhren hin, nachdem wir zuvor schnell noch in   einem Notengeschäft an der Neglinnaja vorbeigeschaut hatten, wo wir ihm   als Geschenk eine Faksimileausgabe der handschriftlichen Partitur von   Tschaikowskijs Sechster Sinfonie kauften. Wenn er sie nicht hatte, dann   musste das für ihn interessant sein – denn er hatte erst kürzlich alle   drei Konzerte von Tschaikowskij gespielt. Und tatsächlich: Er nahm den   dicken Band behutsam in die Hände, blätterte ihn ein wenig durch und   legte ihn beiseite – offensichtlich bis zu einer passenderen   Gelegenheit.
Sofort sprach er über das Dritte Konzert:
„Zu ihm habe ich eine ganz besondere Beziehung – es ist doch das letzte Werk von Tschaikowskij!“
In der Küche setzte er uns an den Tisch, er selbst zauberte Kaffee und   verhielt sich so, als wäre er unser alter, guter Bekannter; unsere   Befangenheit fiel von uns ab. Ich sagte ihm, dass man unbedingt alle   drei Konzerte von Tschaikowskij aufnehmen müsse.
„Nun, man kann doch nicht alles aufnehmen“, antwortete er belehrend. Danach fragte er plötzlich:
„Kennen Sie diesen Künstler – Dali?“
Und nachdem er erfahren hatte, dass wir ihn kennen, brachte er eine   Zeichnung und zeigte sie uns, die ihm Salvador Dali geschenkt hatte.   Allmählich bewegten wir uns in Richtung seines Arbeitszimmers. Dort ließ   ich meine Augen schweifen: An der Wand, neben allem anderen hing ein   großes Porträt, eine Arbeit von Robert R. Falk, auf dem Flügel standen   äußerst seltene Fotografien von Rachmaninow, die ihm seine Tochter   geschenkt hatte, eine Fotografie von Toscanini mit Widmung, Farbfotos –   Gilels in einer Audienz beim Papst in Rom…
„Möchten Sie etwas hören?“, er begann lange mit dem Plattenspieler zu   „kommunizieren“: Es klappte irgendwie nicht und er begann merklich   nervös zu werden. Aber alles renkte sich ein und er legte eine Aufnahme   von Horowitz auf – was es war, habe ich einfach vergessen: Sicherlich,   weil ich vollkommen von ihm in Anspruch genommen war und seine Reaktion   beobachtete… An einer Stelle, wo Horowitz einen „Schlenker“ machte,   sagte er, indem er mit dem Finger auf die Schallplatte zeigte:
„Er geniert sich nicht!“
Danach setzte er sich an den Flügel – es war die Rede von Beethoven –   und er zeigte mir jene Stelle im ersten Satz der Mondscheinsonate, wo   die Achtel-Triolen (der verminderte Septakkord) „allein“ bleiben, ohne   melodische Stimme. Er sagte, dass dem ursprünglich eine andere Fassung   vorausgegangen sei, – er spielte ein kurzes Arpeggio – und Beethoven   erst später zur endgültigen Variante kam (gebrochenes Arpeggio). Ich   erinnere mich nicht genau, aber es schien, dass Gilels Beethovens   Manuskript selbst gesehen hatte.
„Das hat mich sehr beeinflusst“, schloss er ab. Wir ließen uns auf dem breiten Sofa nieder.
„Nun, geben Sie mir Ihr Heft.“
Nachdem er aufmerksam die lange Reihe meiner eigenen Aufzeichnungen durchgelesen hatte, sagte er:
„Ich gebe Ihnen das, was Sie nicht haben.“
Ein hoher Stapel Schallplatten auf dem Flügel war, so zeigte es sich,   für mich bestimmt; ich erhielt sie eine nach der anderen mit den   unerlässlichen Kommentaren. Aber dies schien ihm nicht genug und er   begann aufs Geratewohl Schallplatten aus dem Schrank zu nehmen – die er   mir entweder übergab oder wieder zurückstellte.
„Hier ist für Sie das Erste Konzert von Beethoven, so eines haben Sie   nicht“, er reichte mir eine Schallplatte, aber er überlegte es sich und   stellte sie zurück. „Nein, ich gebe Ihnen besser eine andere, auf der   das Erste und das Zweite ist – auf einer Schallplatte.“
Lange suchte er, schließlich fand er sie.
Alles was ich in Händen hielt, war bei uns damals unbekannt (später   wurden einige dieser Aufnahmen von der Firma „Melodia“ neu aufgelegt).   Hier ist die ganze Liste:
„Gilels im Mozarteum“,
„Gilels in der Carnegie-Hall“ (2 Schallplatten),
Tschaikowskij – Konzert Nr. 1 (F. Reiner),
Brahms – Quartett g-moll, op. 25 (Amadeus-Quartett),
Schubert – Sonate D-Dur,
Schumann – Nachtstücke; Schubert – Moments Musicaux,
Saint Saëns – Konzert Nr. 2 (A. Cluytens), Monzart – Sonate C-Dur (Nr. 16),
Beethoven – Konzerte Nr. 1, 2 (A. Vandernoot),
Beethoven – Konzert Nr. 4 (L. Ludwig),
Beethoven – Konzert Nr. 5 (L. Ludwig),
Beethoven – Konzert Nr. 5 (G. Szell),
Wenn man dabei bedenkt, dass jede seiner neuen Schallplatten – so oft   kamen sie wirklich nicht heraus – für mich – und ich spreche nur von   mir! – ein erstrangiges Ereignis war, so kann man leicht erraten, wie   ich mich fühlte, als ich an einem A-bend Besitzer eines solchen   Reichtums geworden war!
Außerdem gab es auch eine „fremde“ Aufzeichnung: Claudio Abbado mit dem   Bostoner Sinfonieorchester – „Romeo und Julia“ von Tschaikowskij und „   Le Poème de l’extase „ von Skrjabin.
Womit habe ich all dies verdient?
Ich „rechtfertigte“ mich ein wenig, indem ich sagte, dass ich vor einigen Tagen Geburtstag gehabt hatte.
„Na, dann kommt es gerade zur rechten Zeit“, freute er sich.
Es war schon spät und Zeit zu gehen; und so endete jener Tag, der für mich für immer gegenwärtig blieb – der 19. Februar 1972…
Die Zeit verging. Alles war wie früher: wir sahen uns auf allen seinen   Konzerten hinter den Kulissen; tauschten Glückwünsche zum Neuen Jahr aus   (ich gratulierte ihm immer zum Geburtstag); aber seine Anrufe  „kühlten“  zu meiner Freude nicht ab: nach allem zu urteilen, waren sie  für ihn  eine gewisse Atempause in seinem arbeitsreichen Leben. In der  Regel war  das entweder vor oder nach einem seiner Konzerte. Die  Gespräche waren  nicht kurz: er sprach über vieles, fragte nach vielem,  interessierte  sich, was im Institut geschah, erkundigte sich immer nach  meiner Arbeit.  Über sich selbst – nie ein Wort, – nur wenn ich Fragen  stellte.  Irgendwie war das Gerücht zu mir gedrungen, dass er lange  krank gewesen  war. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe.
„Jetzt bin ich in Ordnung“, antwortete er widerstrebend.
Aber darüber, was ringsum geschah, was er sah, hörte, las – sprach er   gerne. Er war sparsam in Worten, aber seine Einschätzungen und Wertungen   waren in ihrer Treffsicherheit und ihrem Scharfsinn vernichtend. Er   sprach mit äußerster Offenheit, ich würde sagen mit furchtloser   Direktheit; er war streng zu anderen, aber auch sich selbst verzieh er   nichts. Er hatte ganz bestimmte Ansichten darüber, wie sich der Mensch   zu seinen Taten zu verhalten hatte: er ertrug Inkompetenz nicht und alle   möglichen Schnitzer verdarben ihm die Laune. In einem Artikel über ihn   wurde zum Beispiel gesagt, dass die Achte Sonate von Prokofjew, die er   als Erster aufführte, ihm gewidmet sei (und dabei hatte Prokofjew sie   seiner Frau gewidmet).
„Wie gefällt Ihnen das, Grischenka“, das ist doch auch eine Schlamperei, sagte er in verächtlichem Ton.
Es gab eine Menge ähnlicher Fälle…
Einmal beklagte er sich, nachdem er den Namen eines Musikwissenschaftlers genannt hatte:
„Wissen Sie, welche Gerüchte er über mich verbreitet? Dass ich mir auf   den Manschetten die Harmoniefolgen im Dritten Konzert von Prokofjew   aufgeschrieben hätte, um sie nicht zu vergessen.“
Das war natürlich offensichtlicher Unsinn und ich sagte ihm, dass man da   nichts machen könne, dass man das mit Geduld ertragen müsse – das ist   eben der Ruhm. Und er beruhigte sich sofort wie ein Kind und fing von   etwas anderem an zu sprechen.
Seine Anrufe hatten, wie schon gesagt, in der Regel verschiedene Inhalte – da gab es zum Beispiel so einen:
Für ihn, wie für jeden anderen Künstler, bedeuteten die Beziehungen zu   den Menschen viel, für die er eigentlich so unzählige Male auf die Bühne   getreten war. So geschah es einmal, dass ich auf zwei von ihm   angekündigten Konzerten nacheinander (einem Abonnementskonzert und einem   außerhalb des Abonnements) allein erschienen war. Das bemerkte er! Er   rief an: wie es meiner Frau gehe, ob sie gesund sei, und als ich   erklärte, warum sie nicht da gewesen war, fragte er:
„Aber Sie sind“, hier zögerte er, suchte das Wort, „Sie sind doch…   zusammen?“ Da stellte es sich heraus, dass er darüber nachgedacht hatte!   – Er war sehr zufrieden, dass alles in Ordnung war.
Im Februar 1975 (um genau zu sein – am 14.) spielte ich mein anstehendes   Konzert im Konzertsaal des Instituts (das Programm bestand aus der   G-Dur-Sonate von Schubert und zwei Werken von Brahms – op. 118 und 119).   In der Pause kam der Tradition gemäß einer meiner engsten Freunde zu   mir, genauer gesagt, dieses Mal kam er eher angerannt – ungewöhnlich   blass, offensichtlich außer sich, auch meine Frau war aus der Fassung.
‚Was soll das?! Nun, – denke ich, – sicherlich spiele ich heute großartig!’
„Also, mach auf diese Weise weiter, halte durch“, sagte mein Freund, „spiele was das Zeug hält!“
Schließlich hatte ich zu Ende gespielt. Im Künstlerzimmer sagt ein Bekannter:
„Weißt du, Gilels war da!“ Ich hatte das als Witz aufgefasst.
„Wenn er da war“, scherzte ich, „dann mag er herkommen“. In dem Moment   wurde der Vorhang zurückgeschlagen – und er trat ein! Ich verstummte.
„Was schweigst du denn“, sagte meine erste Musiklehrerin, „sag ‚Danke’“.
Aber ich konnte auch das nicht sagen. Er gab mir die Hand:
„Lenotschka wollte sehr gerne kommen, aber es ging ihr nicht gut.“ – Und das war alles; er drehte sich um und ging.
Wie man mir später erzählte, wirkte sein Erscheinen vor Beginn des   Konzertes auf meine Bekannten wie ein Schock. Als er das bemerkte   (einige von ihnen – Pädagogen des Instituts – kannte er), erklärte   Gilels:
„Ich habe das Plakat in der Stadt gesehen und mich hat das Programm interessiert.“
… Aber am nächsten Morgen rief er an. Ich folge Pasternak: „ich werde es im Gedächtnis bewahren und nicht verschwenden“…
Na ja! Da erhielt ich die Rechtfertigung meiner musikalischen Biografie.   Zum Schluss des Gesprächs sagte er, dass er mir … Schallplatten   schenken möchte und dass er morgen um so und soviel Uhr im   Konservatorium sein werde; wenn ich kommen könne, würde er sie   mitbringen.
Lange vor der genannten Zeit wartete ich auf ihn in der Garderobe des Kleinen Saales.
Und da erhalte ich ein unschätzbares Geschenk (und wieder fällt es mit meinem Geburtstag zusammen):
das Pariser Album, aus drei Schallplatten bestehend:
Beethoven – 3. Konzert (A. Cluytens),
Rachmaninow – 3. Konzert (A. Cluytens),
Mozart – Sonate C-Dur (Nr. 16), Chopin c-moll.
Außerdem
Beethoven – Sonaten Nr. 6 und 23,
Grieg – Lyrische Stücke,
Prokofjew – Sonate Nr. 8, Visions fugitives.
Der Neid der „Eingeweihten“ war grenzenlos. Einmal rief er an:
„Kennen Sie die Erste Sonate von Schostakowitsch?“
„Ja.“
„Man spielt sie selten. Wenn Sie können, kommen Sie in den Weißen Saal   des Konservatoriums, mein Aspirant wird sie spielen. Er ist aus   Tallinn“, aus irgendeinem Grund wiederholte er das zweimal.
Natürlich ging ich hin. Im Saal fand eine Veranstaltung statt, er wurde   lange nicht freigegeben; Gilels wartete geduldig, er zeigte seinen  Unmut  nicht. Im Konzert, während ich neben ihm saß, versuchte ich seine   Reaktion zu erfassen, aber er war vollkommen gelassen.
Ich kam manchmal in den Genuss solcher „außerplanmäßigen“ Begegnungen.
Im Dezember 1977 fand im Großen Saal der Komponistenunion in der   Neshdanowa-Straße ein Konzert mit Werken meines Freundes, des   Komponisten O. K. Eiges, statt. Gleichzeitig war zu dem Konzert eine   Ausstellung seiner Bilder im Kleinen Saal arrangiert worden. Man muss   sagen, dass Oleg Konstantinowitsch sein Hobby als Maler sehr ernst nahm,   und da machte er etwas Unerklärliches – er rief Gilels an, der ein   entfernter Bekannter von ihm war, und lud ihn zu der Ausstellung ein.   Nicht zum Konzert, sondern zur Ausstellung!
Mir teilte er mit:
„Er hat versprochen zu kommen; ich habe ihm gesagt, dass Sie da sein werden.“
Und tatsächlich – er kam, ungeachtet dessen, dass er zwei Tage später –   am 27. Dezember – ein Konzert im Großen Saal des Konservatoriums hatte,   wo er zum ersten Mal die h-moll Sonate von Chopin spielen sollte! Wir   setzten uns an den Tisch, der in der Mitte des Saales stand und   unterhielten uns, wobei wir uns Zeit ließen. Er fragte, ob ich etwas von   Eiges spiele und was diese Werke darstellten. Irgendwie interessierte   er sich für mein Verhältnis zu Skrjabin. Dann spazierte er durch die   Ausstellung, schaute sich die Arbeiten genau an und trug sich ins   Gästebuch ein. Er erzählte, wie er in Paris im Atelier Larionows war und   wie jene Dame, die seine Bilder erhalten hatte, sie entweder niemandem   zeigt oder nicht verkauft – jetzt erinnere ich mich nicht mehr genau   daran. Er sprach über den starken Eindruck, den Larionow auf ihn gemacht   hatte…
… Aber nach seinem Konzert, im Künstlerzimmer, erkundigte er sich nach seiner Gewohnheit vorsichtig:
„Haben Sie jetzt noch etwas zu erledigen?“
Selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich doch gesagt, dass es nicht so sei.
„Warten Sie auf mich, wir gehen zu mir.“
Er kam lange nicht heraus. Schließlich setzte er mich und meine Frau auf   den Rücksitz seines Autos und er selbst setzte sich ans Steuer.  Während  wir fuhren, fragte er ausführlich nach den Angelegenheiten im  Institut.  Er war in guter Stimmung – das heißt, er war mit dem Konzert  zufrieden  und wollte das Ereignis feiern.
Am Tisch (es waren noch die Tochter Elena mit ihrem Mann da und W. M.   Blok mit seiner Frau) schenkte er allen aus einer schönen Flasche Wein   in die Gläser und sagte bedeutsam:
„Dieser Wein stammt aus den Weinbergen von George Sand, sicherlich hat ihn Chopin getrunken!“
Dann, schon im Arbeitszimmer, sprach er davon, wie teuer ihm diese Sonate war. Ich fragte, ob er ihre polnische Fassung spiele.
„Ja, ich liebe den polnischen Chopin, ich liebe andere Bearbeitungen nicht – ich möchte selbst nachdenken!“
Er schenkte mir eine Schallplatte, offensichtlich ein Probeexemplar. Auf   das leere, weiße Etikett war von seiner Hand geschrieben:
„M. Ravel – Pavane
Jeux d’eau
Moskau Konzert BSK
C. Debussy – Images 1re sèrie
1) Reflets dans l’eau
2) Hommage à Rameau
3) Mouvement
Prag 1973
Emil Gilels“
Das stand auf einer Seite. Auf der anderen:
„Aufnahme eines Konzerts in Prag 1973
Und Strawinsky – Suite aus dem Ballett Petruschka
1. Danse russe
2. Bei Petruschka
3. Jahrmarkt.
Emil Gilels“
Im Juni 1979 erhielt ich von ihm durch die Post einen westdeutschen   Prospekt, der dem 50. Jahrestag seines ersten Konzertes gewidmet war.   Wie üblich rief er mich an und erzählte nichts von sich; aber als ich   wagte, ihn nach etwas zu fragen – antwortete er bereitwillig. Nur einmal   teilte er von sich aus etwas, wie man so sagt, aus dem Stand heraus   mit:
„Grischenka, es gibt jetzt die ‚Hammerklavier-Sonate’!“
Auf meine Fragen teilte er mir den Stand der Dinge mit – welche   Beethoven-Sonaten er zu den aufgezeichneten „hinzufügt“ hatte; doch   einmal, als ich fragte, wie viele noch übrig wären und wann er den   ganzen Zyklus beenden würde, da hörte ich:
„Das überlasse ich dem Schicksal…“
Die Stimme war müde und ungewöhnlich dumpf… Nein, in mir regte sich damals gar kein schlimmes Vorgefühl…
An die schrecklichen Tage im Oktober 1985 möchte ich mich nicht   erinnern. Ich sage nur mit den Worten Paustowskijs – besser kann man es   nicht sagen: „Das Schrecklichste am Tod besteht für diejenigen, die   weiter leben, darin, dass sie dem Toten nicht mehr das Wichtigste sagen   können, dass sie ihn spüren und an ihn denken. Die Liebenden kommen wie   immer zu spät. Eine unverständliche Schüchternheit verschließt ihnen  die  Lippen. Und jetzt wird er natürlich niemals mehr erfahren, wie  stark  und uneigennützig ihre Liebe war. Hätte sie ihn vielleicht retten   können?“
Er war in allem ungewöhnlich. Äußerlich machte er den Eindruck eines   Menschen, der „bis obenhin zugeknöpft war“, unzugänglich und düster. Das   war der unerlässliche Schutz vor der Neugier der Umgebung, der   Geschmacklosigkeit der Menschen; er schützte seine innere Welt – das   äußerst intensive geistige Leben, das ihn keine Minute verließ. Seine   Strenge konnte die Menschen abschrecken. Aber erinnern wir uns –   lächelte zum Beispiel Rachmaninow oft? Eher muss man sagen, dass Gilels   tatsächlich gar nicht so war, wie er schien. Nein, alles war viel   komplizierter; und auch als Mensch war er kompliziert, er ähnelte nicht   dem gängigen Ideal. Denn er war genial – und damit, denke ich, ist   vieles gesagt. Seine sichtbare Strenge spiegelte seine Beziehung zu dem   Werk wider, dem er sein ganzes Leben gewidmet hatte. Hier war er   unbeugsam streng, fordernd und ehrlich. Weder sich selbst noch einem   anderen erlaubte er die kleinste „Schwäche“. Man erzählte mir, wie er   einmal in eine Stadt kam, wo er mit dem Orchester spielen sollte. Auf   der Probe unterbrach der Dirigent mehrmals das Orchester (in der   Orchestereinführung des Konzertes), machte Bemerkungen – kurz gesagt, er   belehrte es. Gilels, der noch keine einzige Note gespielt hatte,   unterbrach die Probe: „Warum ist das Orchester bei meiner Ankunft noch   nicht vorbereitet?“ Ist das vielleicht Unbescheidenheit? Ganz und gar   nicht! Im Gegenteil, damit wollte er gleichsam sagen: „Ich habe alles   getan, was ich konnte; warum habt ihr das nicht auch getan? Vor der   Musik sind wir alle gleich“. Und er hat Recht.
Sein Name hat sich schon längst irgendwie von ihm gelöst, er gehört   schon nicht mehr einem bestimmten Menschen – er verkörpert in sich jene   höchste Stufe des Ruhmes, der nur Auserwählten zufällt. Er wurde mit   Ehrungen, Auszeichnungen, Titeln überschüttet wie aus einem Füllhorn,   aber er änderte sich nicht, er blieb irgendwie der Stille, Unauffällige.   Menschen, mit denen er verkehrte, waren für ihn Freunde, unabhängig  von  ihrer „Berühmtheit“ – ihre Stellung in der Gesellschaft hatte für  ihn  einfach keinerlei Bedeutung. Er war bescheiden und einfach, er war  ein  guter Mensch und half den Menschen. Ich spreche davon in voller   Verantwortung: Einiges ging sozusagen auch durch meine Hände. „Gute   Werke, Grischenka“ – sagte er, „muss man geheim halten“.
Der bekannte französische Kritiker Claude Rostand (man kann sich   vorstellen, wen er alles in den Jahren seiner Tätigkeit gesehen hatte!)   schrieb über Gilels: „Niemals kannte ich einen Menschen, der   bezaubernder, freundlicher, herzlicher, für sich einnehmender war, der   sich mehr im Bann der Kunst befand…“ Und ich kannte auch keinen.
Er besaß außerordentlichen Mut. Er hat vieles erlebt – sein Weg war   keineswegs, wie man so sagt, mit Rosen bestreut. Er hat alles erfahren –   sowohl Ungerechtigkeit, wie Unverständnis… Doch er ging gegen alle   Widerstände seinen Weg, was es ihn auch kostete.
Er trug auf seinen Schultern die schwere Last eines weltweiten Ruhmes,   trug ihn mit Würde und Stolz – nicht auf sich selbst! – auf die Musik,   der er rechtschaffen und ohne Eitelkeit diente. Er stellte sich nicht   zur Schau, kam ohne billiges Aufsehen und Reklame, ohne tiefsinnige   Erklärungen über beliebige Themen aus, er – eine Weltberühmtheit –   spielte sich nicht auf den Bildschirmen im Fernsehen auf…
Mit den Jahren drang er immer tiefer in den Kern der Kunst ein, streifte   alles Äußerliche ab, denn für ihn war nichts teurer als jene Namen,  der  Wille jener, die er den Menschen nahe brachte, – Mozart und  Beethoven,  Schubert und Brahms, Schumann und Chopin, Tschaikowskij und  Rachmaninow,  Debussy und Ravel, Prokofjew und Schostakowitsch… Und  solange diese  Namen lebendig sind, solange die Musik selbst lebt, –  wird auch er  leben!


