Gerard Kimeklis: Zum achtzigsten Geburtstag von Emil Gilels
Moskau, 1996
Eine historische Epoche und Fortschrittsbewegung der Weltzivilisation wurde und wird nie durch politische Systeme, gekrönte Demagogen und ehrgeizige Generäle geschaffen, sondern durch Künstler, die einen kulturellen Raum schaffen, einen Kosmos der Geistigkeit, die das Bewusstsein der Menschen formen, indem sie sie ins Licht der Vernunft und an den Dienst an den höheren Werten des Lebens führen. Kurz gesagt – die den Menschen zum Menschen machen.
Zu diesen großen Künstlern und herausragenden Persönlichkeiten gehörte insbesondere Emil Gilels, dessen achtzigsten Geburtstag wir in diesen Tagen begehen. Seine Klavierkunst, die zu einem der Symbole der vaterländischen und der Weltkultur wurde, verkörperte nicht nur die Kraft und die Kostbarkeit einer Seele, die von seinem Volk großgezogen wurde, sondern sie half auch den Menschen in den harten Jahren des sowjetischen Totalitarismus und der Kriegserschütterungen, ihr menschliches Antlitz zu bewahren, ihre moralische Reinheit und die Fähigkeit, das wahre Schöne zu erkennen.
Gilels einfach einen genialen Pianisten zu nennen, hieße seine musikalische und menschliche Bedeutung zu schmälern. Gilels blieb vor allem immer ein Zögling der russischen nationalen Klavierschule mit ihren hohen professionellen und – im unausgesprochenen Sinn – moralisch-psychologischen Anforderungen, die den inneren Phänomenen der menschlichen Seele und der Vermehrung des Guten und Heiligen unter den Menschen unverwandte Aufmerksamkeit entgegenbringt.
Im Jahr 1933 auf dem Ersten Allrussischen Musikwettbewerb erschütterte er buchstäblich das Moskauer Publikum und wurde von den Mitgliedern der Jury vollkommen einmütig zum Gewinner des ersten Preises gekrönt. Der bis dahin wenig bekannte Sechzehnjährige aus Odessa war schon in jener Zeit nach den Worten Jakob Fliers ein „Pianist von Weltklasse“.
Die weiteren Ereignisse unterstreichen diese Wahrheit. Die Vervollkommnung am Moskauer Konservatorium unter der Leitung von Heinrich Neuhaus begleiten neue sensationelle Siege auf dem Internationalen Wettbewerb der Wiener Musikakademie (1936, zweiter Preis) und dem Eugène-Ysaye-Wettbewerb in Brüssel (1938, erster Preis), was ihn in die Reihe der führenden zeitgenössischen Interpreten stellt. War der Hauptgrund dafür seine phantastische Virtuosität, die für viele Kriti-ker für lange Jahre als „sprichwörtlich“ galt, und der man fast alle Qualitäten des Spiels des Künstlers zuschrieb? Natürlich nicht. Seine verblüffenden technischen Möglichkeiten waren der höchste Kulminationspunkt und durch den Überschwang seiner seelischen Begabung wurden die ganze Weite seiner geistigen Energie und die Maßstäbe des Erreichens dämonischer Tiefen der Musik enthüllt.
Die Haupteigenschaft des Spiels eines Künstlers müsste unserer Ansicht nach das in Klängen wiedergegebene Gefühl der Fülle menschlichen Daseins sein, das alttestamentarische Verständnis von Freude und der Unwiederbringlichkeit eines Augenblicks im Leben.
Der Künstler gehörte zu jenem Typ Musiker, von dem Busoni sagte, dass das Erreichte sie zu interessieren aufhört, sie lockt nur die Aneignung des Unerreichbaren, die Eroberung des nicht Bezwingbaren. Gilels war in den letzten Jahren seines Lebens, sich selbst treu bleibend, jedoch ein ganz anderer, als in den jungen Jahren. Alles irgendwie Äußerliche, Schockierende war gewichen, verschwunden und zutage trat das Geheime: ein edelzurückhaltendes Bekennertum, feinster Lyrismus, erhabene Ruhe und Größe philosophischer Gedanken. Lebensklugheit, die mit dem Alter kam? Nicht nur. Eher Beständigkeit einer geistigen Kühnheit und Schonungslosigkeit sich selbst gegenüber.
Die riesige kreative Arbeit forderte ständige Konzentration auf die innere Welt, eine Abschaltung der alltäglichgesellschaftlichen, hektischen, nicht selten für die Persönlichkeit eines Künstlers zerstörerischen Seiten des Lebens. Die Zurückhaltung, Verschlossenheit, Strenge Gilels’, welche viele für die bestimmenden Züge seines Charakters hielten, waren in der Tat nur eine Tarnung, ein Schild vor dem Einruch einer groben, gnadenlosen Prosa des Lebens in die geheimen Grenzen seines Geistes, wo sich ein feines, verletzliches und dankbares Herz verbarg. Er gab zu: „Ich bin ein wenig sentimental. Aber das Leben gestaltete sich so, dass man mich so nicht kennt. Ich schien ein wenig trocken und gefühllos, weil ich mich für meine Gefühle genierte.“
Bis zum Ende meiner Tage werde ich mich daran erinnern, wie ich – der Autor dieser Zeilen, ein für Gilels damals noch unbekannter Mensch, der sich unter dem überwältigenden, fast schlafwandlerischen Eindruck seines Konzertes befand – ihm einen begeisterten Brief schrieb. Sogleich folgte die Antwort: in der Wohnung, in der ich bis heute lebe, läutete die Türklingel. „Das ist für Sie von Emil Grigorjewitsch“, sagte der Mensch an der Türschwelle, den ich zum ersten Mal sah. ein Schock… Eine Mischung schwer wiederzugebender Gefühle: Freude und Verwunde-rung, Dankbarkeit und Verwirrung. Ich öffnete das Paket mit meiner Frau, die nicht weniger aufgeregt war als ich. In ihm befand sich ein Doppelalbum mit Aufnahmen von Konzerten Gilels in der Carnegie-Hall. Darin verbarg sich die Magie des grandiosen Präludiums und Fuge D-Dur, der verzaubernden 32.Variation und der intimromantischen “Mondscheinsonate” von Beethoven, der nostalgischen Sonate in a-Moll von Medtner, und anderes. Das Geschenk, und auch noch erhalten aus den Händen eines in der ganzen Welt bekannten Meisters, war wahrhaftig überwältigend. Dem Album war ein prächtiges Büchlein beigelegt und ein eigenhändiger Brief Gilels mit herzlichen Dankesworten.
Seit jenem Tag gab es noch viele Begegnungen mit dem Pianisten auf seinen Konzerten im Großen Saal des Konservatoriums, im Künstlerzimmer, wo Gilels in seiner asketischen Weise die Glückwünsche entgegennahm. Fast immer war seine Tochter Jelena bei ihm, die für den Vater genau so lebte, wie er für sie.
Nach dem Geschenk erhielten wir einige Jahre in Folge zu den Feiertagen und einfach so – ohne besonderen Anlass – von Gilels lakonische Brief-Glückwünsche, Brief-Grüße, die von ihm aus den unwahrscheinlichsten Orten abgeschickt wurden, in denen er sich auf Konzertreise befand, – Japan und Deutschland, die Vereinigten Staaten und England, die Schweiz und Japan, wir unterhielten uns über Telefon. Und einmal erhielten wir ein ausgezeichnetes Porträt Beethovens, gemalt von Torggler, sorgfältig eingeschlagen in feinstes Papier. Der große Komponist sah Gilels erstaunlich ähnlich – der unerschütterliche und entschlossene Blick, die fest zusammengepressten Lippen. Ich bewahre es bis heute als heilige Reliquie auf.
Und danach… Danach – schon im Jahr 1985 – es fällt mir schwer, es ist mir unerträglich davon zu sprechen – war die Totenfeier im Großen Saal des Konservatoriums. der Sarg auf dem hohen Sockel auf der Bühne, die noch die Wärme seines Atems bewahrte und auf welche er im Laufe eines halben Jahrhunderts hinaustrat.
Noch später – nach der Beerdigung – gab es ein trauriges Totenmahl in Gilels’ Wohnung, wo sich die Menschen trafen, die ihm am nächsten standen. Die vom Schmerz niedergeschmetterte Witwe Fariset, eine Frau von größter Tapferkeit und beispielloser Selbstbeherrschung, ließ in die erstarrte Stille knapp diese doch leisen und entsagenden Worte über die letzten Tage ihres Ehemannes fallen, über die Bibel, um die er aus dem Krankenhaus kam, über den schrecklichen und rücksichtslo-sen Anruf in der Nacht aus diesem menschlichen Jammertal – „Er ist gestorben“…
Er, der durch höchste vaterländische und internationale Titel, Ehrungen und Auszeichnungen gefeiert wurde, ohne den man es in der Heimat fast für unmöglich hielt zu leben, war fast bis zur Lage eines Staatssklaven herabgewürdigt, an der kurzen Leine der Macht gehalten. Sie diktierte ihm die harten und erniedrigenden Bedingungen der Gastspielreisen ins Ausland (90 Tage im Jahr und keinen Tag mehr), unterbrach sie, mischte sich ohne viel Federlesens ins Repertoire – was er zu spielen hatte und was nicht. Sie bestahl ihn, nahm ihm den größten Teil des erhaltenen Honorars ab, mehrfach verbot sie ihm Aufnahmen mit den hervorragendsten Orchestern der Welt unter der Leitung bekannter zeitgenössischer Dirigenten – Eugene Ormandy, Zubin Mehta, Leonard Bernstein.
Die Menschen gingen mit Blumensträußen in den Händen und geheimer Erregung im Herzen zu seinen Konzerten – ob er als Solist auftrat, mit berühmten Orchestern oder im Ensemble mit herausragenden Musikern – sie gingen wie zu einem vom Himmel geschenkten Feiertag. Schon lange bevor die Zauberfinger des Künstlers die Tastatur berührten, verstummte der Saal, und dann folgte ein Wunder, eine Katharsis der Vertiefung in eine andere, unbekannte Dimension.
Wenn wir können, trösten wir uns mit dem Gedanken, dass uns Menschen, wie der große Emil Gilels und seine wunderbare Tochter deshalb verlassen, damit uns Sündern, die sie verloren haben, die Bedeutung einer heute niedergetretenen Geistigkeit und Kultur für unsere Gegenwart und die Zukunft eindringlicher, tiefer und gewichtiger bewusst wird. Und damit wir alles wahrhaft Lebendige, Talentierte und Rechtschaffene auf der Welt für unübersehbare Jahre bewahren.